Die FAZ druckte unlängst eine übersetzte Fassung der Kritik, die Evgeny Morozov an Jeff Jarvis neuem Buch “Public Parts” anbrachte. Der Beweggrund dieses Textes ist allerdings nicht der Inhalt der Morozov’schen Kritik – wobei ich nicht in Abrede stellen möchte, dass es sich um ein interessantes Stück handelt, nur soll es eben hier nicht eingehend behandelt werden -, sondern deren Stoßrichtung selbst: der Umstand also, dass mit Morozov ein selbsternannter Netzskeptiker einen der stärksten Befürworter des Internets, Jeff Jarvis, scharf angreift und damit eine neuerliches “You're either with us, or against us” heraufbeschwört. Ein weiteres Kapitel eines fortwährenden Kampfes von Bewahrern und Reformern zieht natürlich immer. Dabei ist der Zug längst abgefahren.
Bereits im frühen 19. Jahrhundet begann nämlich die Erfolgsgeschichte der Eisenbahn. Gleise wurden gelegt, Monopole errichtet, Chancen genutzt, die Mobilität erhöht, Kriege und Scharmützel geführt und Regionen “entdeckt”, von denen im Osten bis dato nie jemand gehört hatte. Auch damals gab es Glücksritter und eben jene, die auf einen möglichen Glücksfund im Westen gerne verzichtet hätten, würde nur alles so bleiben wie bisher. Es sollte – wenn auch nicht schmerzfrei – anders kommen.
Wir aber stecken heute noch mitten in unserer Erfolgsgeschichte, sind sozusagen live dabei: Zivilisatorischer Fortschritt in der ersten Reihe, mit Popcorn und allem, was das Herz begehrt. Dabei hat aber das Neue, das den einen Angst macht und den anderen Freude bereitet, nicht nur mit Datenschutz, Post-Privacy und Netzneutralität zu tun. Das alles sind Episoden auf einer langen Reise, die anders als die Eisenbahn (mehr oder minder) kein Ende finden wird. Denn das Netz selbst ist der Fortschritt im Fortschritt, es produziert ihn immer wieder. Auf den nächsten Halt müssen wir nicht mehr warten, wir passieren ihn bereits.
Das Rezept hierfür (und für einige andere Dinge) heißt“Permanent Beta”, eine Entwicklung, die keine “Final”, also kein Endstadium kennt. Alles wird ständig und unaufhörlich weiterentwickelt, nichts wird fertig, alles muss über den Haufen geworfen (zumindest aber hinterfragt) werden, sobald es einmal steht. Und: nichts ist “too big too fail”. Dem Internet ist der Wandel immanent. Das aber heißt für das einzelne Individuum, dass auf der eigenen Lernkurve kein Platz mehr ist für Lernplateaus, das Zielniveau, die Ruhepause. Alle diejenigen, die also studiert haben, um ihr Ticket für den Arbeitsmarkt zu lösen, dürfen jetzt enttäuscht sein. Auf den Lorbeeren wird sich niemand mehr dauerhaft ausruhen können, schon gar nicht ewig die Früchte harter Arbeit von anno dazumal ernten. Das ist vorbei, morgen geht es von vorne los. Wer aber des Studierens wegen Student war, darf frohlocken: das geht jetzt immer so weiter. Das Konzept des lebenslangen Lernens mag so alt wie der Mensch selbst sein, nie aber war es so aktuell (und verbreitet) wie heute.
Es verwundert daher nicht, dass die Kritik am Netz (und allem, was damit irgendwie zusammen hängt) häufig in missmutigen Sätzen wie “Damit möchte ich mich einfach nicht auseinandersetzen (müssen)” mündet. So spricht ein Lebensmodell, das sich und den Status Quo zu erhalten sucht. In dieser ablehnenden Haltung manifestiert sich der Unwille, sich grundsätzlich mit Neuem auseinanderzusetzen. Man hat ja schließlich schon genug gelernt. Es ist dabei völlig klar, dass Umschulen ebenso schwer wie die Erkenntnis der Notwendigkeit fällt. Hieraus resultiert bei den Getriebenen Stress auf einer sehr existenziellen Ebene. In etwa so kann man sich die Gefühlslage in der Bergbaubranche vorstellen, als die ersten Zechen schlossen. Niemand der Involvierten wird die damalige Entwicklung für gut befunden haben. Daran ist auch nichts falsch. Nur darf man sich heute nicht mehr beschweren, wenn einem die Felle davonschwimmen. Denn das Aufholen von Verpasstem (“Na gut, es sind ja jetzt alle meiner Freunde bei Facebook.”) bzw. das Erlernen von Neuem ist die Sisyphosarbeit, die das Netz uns auferlegt und in Zukunft in steigender Frequenz immer wieder auferlegen wird.
Im Gegensatz zum Planeten (oder bescheidener: zum wilden Westen) ist im Internet immer Platz für neue Schienen und damit neue Glücksfunde, Herausforderungen und Ideen. Es wird nie vollständig erschlossen sein und umspannt trotzdem den gesamten Globus. Der Entdeckungsprozess wird nie enden. Schon jetzt breitet sich das Netz ferner schneller aus, als es den meisten, vor allem aber auch den Nationalstaaten und ihren Institutionen, lieb sein kann. Denn genau wie das getriebene Individuum befinden auch diese sich im Stress, der nach derProkrastination kommt.
Anders ist nicht zu erklären, dass es kein Gegengewicht gibt zu einem simplen “Don’t be evil!” und dem darin enthaltenen Glaubensbekenntnis, das der heranreifenden Wissensgesellschaft abverlangt wird. Dieser Spruch soll uns versichern, dass Firmen wie Google – aber auch Facebook, Amazon oder Ebay –, die uns die digitale Öffentlichkeit global zur Verfügung stellen, im Netzbürger mehr sehen als den simplen Kunden einer privaten Firma. Uns die Rechte einzuräumen, zu garantieren, die einen öffentlichen Raum zu einem wirklichen Raum der Öffentlichkeit machen, steht und fällt momentan mit den Interessen kommerziell operierender Unternehmen, nicht aber mit denen einer internationalen Institution, die den modernen Global Playern entgegen steht. Auch diese vermeintliche Hilflosigkeit ist ein Quell des immer wieder aufbrandenden Misstrauens, der Skepsis gegenüber dem Netz generell. Und selbst wer gläubig ist, wird erkennen müssen, dass unsere Altvorderen die Geister, die sie riefen (Globalisierung, on- und offline), gar nicht in der Lage sind zu kontrollieren (geschweige denn zu verstehen), solange sie es sich in der Kleinbürgerlichkeit des Nationalstaats gemütlich machen.
Statt aber groß zu denken und Weitblick zu beweisen, sich auf Veränderung einzustellen, kümmert man sich um die schönen – also die alten, liebgewonnenen, vertrauten – Dinge des Lebens und versucht mit allerlei modernen Kohlepfennigen (z.B. demLeistungsschutzrecht), die unter dem Druck des Wandels schwächelnden nationalen Industrien auf Pump (VWL 1: “Der Irrsinn heute ist der Verzicht morgen”) am Leben zu erhalten, während die neuen digitalen Industrien eine internationale Wirklichkeit schaffen, die Strukturen, Regeln und Abkommen der alten Welt überholt, teilweise ad absurdum führt. OhneNachhilfeunterricht wird das nichts.
Es ist also kein Wunder, dass sich selbst in der Politik eine leise Sehnsucht nach Verjüngung breit macht. Jugend, so scheint es, ist der Schlüssel zum Problem, auch wenn sich in der Umsetzung häufig noch der Eindruck eines Escortservice aufdrängt. Wer jung ist, will im besten Fall lernen, ist neugierig und hat noch die Art von Visionen, wegen denen Altbundeskanzler Helmut Schmidtzum Arzt gegangen wäre. Berufsjugendlichkeit ist sozusagen der Soft Skill der Stunde, auf dem Weg steil nach oben im CV. Es überrascht daher wenig, dass das Netz voll ist, von Dingen, die auf den ersten Blick wenig Sinn ergeben, sich ausprobieren wollen und häufig kindisch anmuten. Es ist eine riesige Spielwiese, auf der nicht wenige sich eine blutige Nase holen, die Begeisterung jedoch selten verloren geht.
Ernst Barlach sagte einst, es sei das Vorrecht der Jugend, Fehler zu begehen. Aus letzteren, so heißt es gemeinhin, lerne man am Besten. An diesem Punkt befinden wir uns wieder beim “Elend der Internetintellektuellen”, die Morozov als “nachlässig, ignorant und hochtrabend” beschreibt. Auch, wenn die betroffenen Seiten es in den seltensten Fällen wissen, so ist es im Grunde das größte Kompliment, das man einem Jugendlichen machen kann.
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Dieser Text wurde durch einen Post von Marcel Weiß angeregt.