Im Jahr 1997, kurz bevor die MusikTauschplattform Napster online ging und damit angeblich Hungerjahre in der Musikbranche anbrachen, gründete sich in Bergedorf bei Hamburg die Gruppe Deichkind. Malte Pittner, Philipp Grütering und Bartosch „Buddy“ Jeznach konnten mit ihrer ersten Single Wer bremst das?! in der lokalen Hiphop-Szene sofort Aufsehen erregen. In dem Lied ging es um ihre Vorliebe für den Tanzpalast, Opel Monzas und Dolly Busters Busen, und es zeigte schon früh, wohin die Reise der Umland-Hamburger gehen sollte: aus einem verschlafenen Nest in die Diskotheken der Republik. Wenig später gelang zusammen mit der RapperinNina Tenge der nationale Durchbruch: Bon Voyage.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürften die Deichkinder das erste Mal mit der GEMA, der deutschen Verwertungsgesellschaft für die Rechte an Musikstücken, Kontakt gehabt haben, um die steigende Zahl der im Radio gespielten Stücke in bare Münze tauschen zu können. Dass die Gesellschaft allerdings nicht immer im Sinne der Künstler – und auch der Fans – handelt, das wird erst heute, also gut zwölf Jahre später, durch einen symbolträchtigen Streit um gesperrte Musikvideos auf Youtube allen Beteiligten klar. Denn auch die Band ist an diesem Streit nicht unbeteiligt.
Zwar landete Deichkind kommerzielle Achtungserfolge und erfreute sich dank des lyrischen Charmes ihrer Texte hoher Beliebtheit, doch kurz nach einem ziemlich fragwürdigen Auftritt bei Stefan Raabs Bundesvisionsongcontest ist für eines der Mitglieder, also für Malte Pittner, wegen „privater Streitigkeiten“ Schluss. Er stieg aus und kam später bei Olli Dietrichs Band Texas Lightning unter.
Um dem durch die Trennung bedingten Kater entgegenzuwirken, fängt die Band an, die eigenen Bühnenshows in ekstatische Festivals zu verwandeln: Laserblitze, Neonfarben, Plastiksäcke, wabernde Bierbäuche, Sektduschen, Duct Tape, stagedivende Sofas. Es geht einiges. Dieses neue Konzept funktioniert deutschlandweit. Außer für Jeznach, dem mittlerweile vorletzten Mitglied der ersten Stunde, der nun auch den Dienst quittiert. Um, wie es auf der Homepage der Deichkinder damals hieß, nicht länger den „Papillon bei der Entfaltung“ zu behindern.
Der frühe Deichkind-Sound hatte Charme und bestand aus einem augenzwinkernden, jugendlichen Vorstadtjunge-trifft-auf-Großstadt-Hiphop. Peu à peu ist der aber nun einem vermeintlich sinnentleerten Tech-Rap gewichen, den man als eine Art trashiges Gesamtkunstwerk bezeichnen kann und der unverkennbar dem Prekariat urbaner Subkultur huldigt. Deichkind ist, glaubt man den jüngsten Verkaufszahlen, auf diesem Weg gesellschaftsfähig geworden – nur eben nicht so, wie sich Kristina Schröder das vorstellt.
Der Grund für den Erfolg ist ein feines Gespür für den Zeitgeist. Zwar ist die Band noch immer kulturschaffend, es dürfte jedoch auch keine Probleme bereiten, sie innerhalb jener drei Definitionen anzusiedeln, die Mark Greif anbietet, um denHipster zu definieren. Hipster ist bei Greif eine Vorfront des konsumierenden Mainstreams. Die Grenze zwischen Produkt und Konsument, zwischen Band und Publikum verschwimmt zusehends, was sich nicht nur in den großen Liveshows und der Fluktuaktion des Personals widerspiegelt.
Wer heute Deichkind sagt, meint schon lange nicht mehr „Malte, Buddy und Philipp“, also die Band, das Personal. Sondern er spricht über die Partys, das gemeinsame Lebensgefühl, über ein Phänomen.
Die Fans jedenfalls waren schwer genervt von der GEMA-Sperrung des neuen Deichkind-Videos Leider geil auf Youtube. Nachdem das Musikfernsehen nicht mehr das ist, was es einmal war, konsumiert man hierzulande Musik ja bekanntlich im Internet. Und trifft dort jedoch immer häufiger auf Stoppschilder eines alten Bekannten, von dem schon die Rede war: Der GEMA nämlich.
Verwertungskorsett
Auf der Facebook-Fanpage der Band hieß es dazu: „Ob Plattenfirma, Youtube oder GEMA, egal wer dafür verantwortlich ist. Wir wollen, dass unsere Videos zu sehen sind. Regelt euren Scheiß jetzt endlich mal und macht eure Hausaufgaben. Ihr seid Evolutionsbremsen und nervt uns alle gewaltig.“ Die Band trifft damit den Nagel auf den Kopf und spricht den Teilen der „Netzgemeinde“ aus der Seele, die mehr interessiert, ob etwas funktioniert und weniger warum.
Es ist recht und billig in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Deichkind-Mitglieder auch bei der GEMA gemeldet sind, die Band also Teil des Problems ist. Aber wem hilft es, den schwarzen Peter endlos hin- und her zu schieben. Zumal dann, wenn es zum Konzept von Deichkind gehört, die Grenzen zwischen Fans und Band aufzuheben. Auf ihrem neuen Album bezeichnen sich Deichkind selbst als Illegale Fans, die illegale Downloads als normal empfinden. Denn die Fans bedienen sich halt wie sie können, solange die Musik- und Verwertungsindustrie keine zeitgemäßen Geschäftsmodelleentwickelt.
Damit machen sich die Deichkinder mit den modernen Konsumenten gemein, die nicht bereit sind, darauf zu warten, dass die prädigitale Welt endlich in der Gegenwart ankommt, oder sich in ein veraltetes Verwertungskorsett pressen zu lassen. Dieser Entwicklung gegenläufig wird jedoch am 20. April das Landgericht Hamburg zunächst darüber verhandeln, ob YouTube auch wirklich genug Videos sperrt.
Deichkinds Erfolg hat nicht zuletzt damit zu tun, dass sie mit dem antiquierten, paternalistischen Frontalunterricht der übrigen Bands gebrochen haben. Das ist kein Zufall. Denn die Deichkinder sind Hipster wie viele, rebellische Konsumenten halt, wie Mark Greif sie genannt hat. Oder mit Deichkinds Worten: Hört ihr die Signale?