"Alles bleibt anders", sagte nicht nur – aber auch – Herbert Grönemeyer, allerdings explizit ohne Netz. Mit letzterem leben wir nun schon eine Weile. Und trotzdem muss man sich nach wie vor die Frage gefallen lassen, warum sich die meisten von uns dennoch scheinbar unreflektiert in der neuen digitalen Welt bewegen. Das könnte damit zusammen hängen, dass die innere Kosten-Nutzen-Rechnung instinktiv und (meist) unbewusst positiv ausfällt – was freilich mehr Erklärung denn Blankoscheck ist. Das Internet bedient auf einer abstrakten Ebene sehr natürlich menschliche Triebe und Bedürfnisse (hier ausnahmsweise: Neugier, Vernetzung). Es ist eine Serendipitätsmaschine.
Durch ihren Motor angetrieben erleben wir eine – relativ zur Vergangenheit – beschleunigte “Verrezeptierung der Welt”, die sich in einem Netzwerk manifestiert, welches seine Grenzen immer und immer wieder von Neugier getrieben und Zufall begünstigt überwindet. Die Frequenz, mit der dieser Prozess voranschreitet, hat ein Niveau erreicht, welches der Menschheit ein (permanentes) Umdenken hinsichtlich den ökonomischen wie gesellschaftlichen Regeln abverlangt.
Doch von Anfang an. Zunächst gab es den Glücksfund, ein anderer Begriff dafür ist Serendipität. Er ist Ergebnis einer unstillbaren Neugier nach Neuem und ermöglichte es dem Menschen, seine Umwelt zu begreifen und Vorgefundenes zu nutzen oder nutzbar zu machen. An dieser Stelle müssen wir uns den Menschen als einen ewig Suchenden vorstellen.
Ein neugieriger Geist
Was aber beschreibt Serendipität genau? Die Wikipedia sagt, sie sei eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist. „Der Zufall [ – allerdings – ] begünstigt nur einen vorbereiteten Geist“, so der Entdecker Pasteur. Die Menschheit besitzt einen solchen, neugierigen Geist, selbst wenn Pasteur wohl mehr auf einzelne Akteure der Spezies anspielte. Es sind jedoch zweifelsohne Eifer und Neugier mit einem Schuss Glück – ohne fixes Mischverhältnis –, die Menschen die Grenzen der bekannten Welt immer weiter nach außen verschieben lassen.
Eine Grenze lässt sich jedoch nur verschieben, wenn der Weg zu ihr bzw. über sie hinaus wiederholt werden kann. Erst die Erkenntnis, dass man z.B. Korn immer wieder und kontrolliert auf einem Feld anbauen kann, ermöglichte Landwirtschaft und damit ein Stück zivilisatorischen Fortschritt. Der Mensch selbst strebt – getrieben durch oben beschriebenen Cocktail – danach, diesen Fortschritt beständig voran zu treiben, ist auf der Suche und trägt damit zur "Verrezpetierung der Welt" bei.
Auf dieser Suche wurden und werden immer wieder neue Wege beschritten, Punkte miteinander verbunden, die vorher getrennt voneinander existierten. Unter diesem Gesichtspunkt könnte man Kolumbus als eigentlichen Entdecker der “neuen Welt” bezeichnen, unabhängig davon, ob einige schon vor ihm da waren. Sein Verdienst war, zwei Kontinente dauerhaft miteinander zu verknüpfen. Seine “Entdeckung” lies sich wiederholen.
Eine abstrakte Anleitung zur Wiederholung
Wenn also zwei abstrakte Punkte miteinander verbunden werden, entsteht zwischen ihnen ein Weg, etwas fixes. Ein Weg ist jedoch letztlich nichts anderes als reproduzierbare Veränderung, so wie ein Rezept nicht mehr denn eine abstrakte Anleitung zur Wiederholung ist. Straßen, Seerouten, aber auch Walter White oder Tim Mälzer zeigen uns, wie man von A nach B kommt, wie man Dinge immer und immer wieder von einem in den anderen Zustand überführt. All dies macht die "verrezeptierte Welt" aus.
Lässt man sich auf diese Idee ein, wird schnell deutlich, dass es selbst für einen Apfelkuchen nicht nur Verflechtungen zwischen A und B, also zwei Punkten, geben kann, sondern viel Mehr ein Gewirr aus Verflechtungen, Abzweigungen und Querverbindungen besteht. So bahnen sich Hefe, Milch und Äpfel ihren Weg auf unseren Tisch: vom Hof, über die Autobahn in den Supermarkt, bezahlt mit der EC-Karte, über die U-Bahn, durch Mamas Kochbuch, in den Backofen. Menschliches Handeln kann also als die Erschaffung, Nutzung und Ausweitung eines abstrakten Netzwerks bestehend aus rhizomorph undmultidimensional miteinander verwobenen Verknüpfungen bzw. Rezepten verstanden werden.
Eine besondere Rolle nimmt hierbei der Knotenpunkt ein, da er – speziell im Hinblick auf die subjektive Serendipität des einzelnen Akteurs – eine Unzahl von Möglichkeiten eröffnet, sich im Netzwerk zu bewegen. Als klassisches Beispiel für die gestiegene Aktivität an Knotenpunkten kann man das Phänomen der Verstädterung heranziehen. Nicht nur dorthin – in die Stadt – treibt es den Menschen von jeher. Es treibt in dazu, alles miteinander zu vernetzen. Ein Blick auf die Landkarte genügt (alt, neu).
Eine kosmische Membran
Den Endzustand dieser menschlichen Vernetzung beschrieb der in einschlägigen Wissenschaftszweigen viel zitierte Kommunikationswissenschaftler, Philosoph und KatholikMarshall McLuhan als “kosmische Membran, die Noosphäre, die sich durch die elektrische Erweiterung unserer verschiedenen Sinne rund um den Globus gelegt hat“. Oder anders: als „ein technisches Gehirn für die Welt“. Dieses Konzept geht (vermutlich) auf den Jesuiten-Priester Pierre Teilhard de Chardin zurück, der sich mit seiner These von der “auf die Errichtung eines Organismus des kollektiven Bewusstseins gerichteten Evolution”, durch die sich Gott zeigen würde, in den 1930er Jahre in der Kirche nicht nur Freunde machte. Heute ist das anders. Ein glühender Verehrer soll unter anderem Joseph Ratzinger, Papst a.D. sein.
Teilhard gilt daher einigen als einer der ersten Vorhersager des Internets. Andere konstatieren dennoch kritisch, dass durchaus häufig „der Prophet dem Forscher [Teilhard] die Feder aus der Hand genommen hat“ (A. Portmann). Teilhard und seine Ideen waren und sind nach wie vor umstritten. Sicherlich auch, weil er seine durchaus interessanten wissenschaftlichen Thesen spirituell überlud.
Spirituelle Überladungen wiederum finden sich meist in den Grenzbereichen dessen, was als bekannt gilt. Das, was wir nicht kennen, jedoch zu erklären, finden oder entdecken suchen, ist per definitionem zunächst mystisch. Es liegt außerhalb unseres Netzwerks, unserer Erkenntnisraums. Mit einem Schuss Heuristik wird daraus eine Wette auf die Zukunft – oder eben auf das nächste Rezept –, etwas woran wir maximal glauben, wovon wir uns aber zumindest etwas versprechen.
Erneuerer vs. Bewahrer
So wie auch der klerikale Glaube nicht selten einen eher ökonomischen Hintergrund besitzt, verhält es sich auch hier. Im Spannungsfeld, an der Vorfront des kulturellen Netzwerks, findet ein Glaubenskampf statt, der von Homo Oeconomicusausgetragen wird. Es sind die Erneuerer, die Glücksritter, die etwas zu gewinnen und die Bewahrer, die etwas zu verlieren haben. Dass die Rollen im Erfolgsfall getauscht werden, ist dabei eher Regel denn Ausnahme.
Wenn er etwas Nützliches entdeckt, will Oeconomicus davon – möglichst exklusiv – profitieren können. Diese Position wird einerseits von Nachahmern, Nutznießern, aber auch von denjenigen, die eine bessere Idee als er selbst haben, bedroht. Also baut er Grenzen – mit Papier, Code oder Maschendraht– je nach Bedarf. Er treibt einen Keil ins Netzwerk.
Folgte man aber den Ideen von Teilhard und McLuhan würde eben gerade dieses Handeln eine Vernetzung des Menschen – und damit dessen Weg zur Himmelspforte – behindern. Grenzen könnte man dementsprechend als artifiziell und unchristlich bezeichnen. Eine Feststellung, die man auch aus anderen Gründen teilen kann. Etwas häretisch könnte man dem allerdings entgegen halten, dass Arbeit sich wieder (bzw. weiterhin) lohnen muss. Der Teufel steckt in der Distinktion.
Zugang ist das Zauberwort
Nichtsdestotrotz finden sich auch Anzeichen für ein zaghaftes Umdenken. Sharing-Ökonomien oder Open Source-Initiativen sind Beispiele dafür, wie man versucht, althergebrachte ökonomische und gesellschaftliche Schemata aufzubrechen. Das populäre ‘Bagatelldelikt’ der Netz-Piraterie verdeutlicht, dass der Mensch frei nach Hollywood-Comedian Charlie Murphy ein ‘Habitual Linestepper’ – ein gewohnheitsmäßiger Grenzüberschreiter – ist. Er will sich als Subjekt ebenfalls frei und ungebremst bewegen, weiterentwickeln und lässt sich nur widerwillig in Schranken weisen. Nicht umsonst schreibt Elfriede Jelinek in diese Kerbe stoßend, “das Internet sei Gott”. Zugang ist das Zauberwort.
Das Problem am ungehinderten Zugang zu Immaterialgütern ist allerdings, dass diese ihren analogen, geldlichen Wert erst durchkünstliche Verknappung, die Begrenzung ihrer Nutzung, erhalten. Würde man diese Grenzen einreißen, führte dies gleichzeitig zu ihrer Entwertung – zumindest monetär. Dass der Ruf nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen gerade heutzutage immer lauter wird, ist dementsprechend kein Zufall, sondern eine erste Reaktion auf das vermeintliche [sic!] Paradoxon zwischen hoher Nachfrage nach Information bei gleichzeitiger Entwertung dieser.
Zugang macht jedoch ebenso wenig vor den Grenzen nach innen halt. So verschwimmen diese ebenfalls zwischen dem, was sich vor der dem Zeitalter der Digitalität fein säuberlich in die Schubladen Arbeit oder Privatleben stecken ließ. Eine ganze Generation neuer Berufstätiger kämpft um eine gesunde Work-Life-Balance – oder wird dies in Zukunft vermehrt tun müssen. Die Privatsphäre – ein durch die Verfassung geschützter Raum, eine kulturelle Errungenschaft – erlebt dieser Tage eine defacto-Entwertung, wie sie sich unsere streitfreudigen Eltern nur schwerlich (hätten) vorstellen können.
So ist es wenig verwunderlich, dass wir einen Glaubenskrieg erleben, der irgendwo zwischen Titelseite, Telefon und Tafel ausgefochten wird. Es geht um erschütterte Überzeugungen, überholte Regeln und umkippende Märkte – immer und immer wieder. Schuld daran ist der Mensch selbst, ein rastloser Wanderer zwischen Hab- und Neugier. In diesem Sinne: Grüß Gott!