Wie ein Streit um den Fahrradweg vor einem Berliner Späti in einer handfesten Blamage für Politik und Verwaltung endet
Von Antonia Märzhäuser, Susann Massute und Jan Jasper Kosok
Berlin ist eine spezielle Stadt. Das Innere des S-Bahn-Rings – seit dem Mauerfall im ständigen Wettstreit zwischen Nostalgie und Moderne – zieht Touristen wie Wahlberliner seit Jahren gleichermaßen in seinen Bann. Und auch der Ur-Berliner weiß, wo es am schönsten ist: in seinem Kiez. Noch ist die Stadt ein bisschen urig, nicht stubenrein genug, um im Konzert der ganz großen Metropolen mitzuspielen. Irgendwie scheint man auch stolz darauf, dass sich hier Alkoholiker und Expat noch friedlich die Klinke in die Hand geben, wenn sich der eine sein letztes und der andere sein erstes Bier im Spätkauf nebenan holt.
Am Görlitzer Bahnhof, der sich in der Ära Henkel (Innensenator, “Danke, Frank”) zunehmend den Ruf eines Mekkas für Dealer erarbeitet, findet man so ein Etablissement. Der „Dusk till Dawn”-Späti ist einer jener Läden, deren Charme nur begreifen kann, wer die Mischung aus hängen gebliebenen Devotionalien (alte Filmposter, Marlon Brando), 1990er Jahre Ambiente (Neonlichter, nervös blinkend), Notfalleinrichtungen (Geldautomat, 4,99€ pro Abhebung) und einer beachtlichen Auswahl exotischer Biersorten (Störtebeker Schwarzbier, Fürst Carl Dunkel) zu schätzen weiß. Von diesen Leuten gibt es überraschend viele.
Dessen ist sich inzwischen auch Semra bewusst. Der Blick der kleinen Frau, die ihren Späti seit sieben Jahren mit viel Liebe und kaufmännischer Schläue betreibt, ist so vergnügt wie kämpferisch. Vor ein paar Monaten sah das für die „Kiez-Mama”, wie sie ihre treuesten Kunden nennen, noch ganz anders aus. Als sie Mitte Januar erfuhr, dass ihr das Ordnungsamt die Genehmigung zum Aufstellen von Bänken und Tischen auf dem Bürgersteig vor dem Späti entziehen würde, standen der sonst so toughen Frau die Tränen in den Augen. Ihre Geschichte schien eine weitere Episode dafür zu werden, wie Denkfaulheit und Regulierungswut sukzessive den Charme Berlins ausradieren.
Ordnung muss sein
Eingepfercht zwischen einem auf dem Bürgersteig verlaufenden Radweg und dem Mobiliar der Geschäfte sei für Fußgänger zu wenig Platz, der gesetzlich vorgeschriebene Abstand für die sichere Benutzung des Gehwegs werde nicht eingehalten, so die nüchterne Analyse des Ordnungsamts. Es handle sich eben um ein „Nadelöhr“, so Peter Beckers von der SPD, Bezirksstadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg, stellvertretender Bezirksbürgermeister und verantwortlich für die Bereiche Wirtschaft, Ordnung, Schule und Sport. Für ihn liegt der Sachverhalt klar: „Das Ordnungsamt hat die Pflicht der Gefahrenabwehr. Wenn ein Unfall passiert, wird es zur Rechenschaft gezogen, so lange die Gefahrensituation nicht beseitigt ist, kann die Sondernutzung nicht erteilt werden“. Gerade in den Sommermonaten, in denen der Fahrrad- und Fußgängerverkehr zunimmt, sei die Situation unhaltbar. Punkt.
„Fünfzig Prozent”, das betont Semra so häufig wie nachdrücklich, würden ihr an Umsatz in eben jenen Monaten dadurch verloren gehen, dass ihr das Sondernutzungsrecht für den Bürgersteig entzogen wurde. „Mindestens!” Auch beim ebenfalls von der Regelung betroffenen vietnamesischen Restaurant nebenan macht man sich Sorgen: „Wir haben zwar Klimaanlagen eingebaut, aber im Sommer wollen die Leute nur draußen sitzen.” In einer Stadt wie Berlin ist man dazu geneigt, so etwas schnell abzutun. Man kann hier dabei zusehen, wie sich die Dinge verändern. Und es gibt immer Leute, die dabei in den sauren Apfel beißen müssen. Draußen sitzen kann man schließlich auch irgendwo anders.
Überhaupt sei Kreuzberg ein Bezirk, der insgesamt nicht gerade arm an Cafés und Spätis sei, befindet Peter Beckers. Ganz auf Linie mit einer Stadt, die ihre Kioske schon länger gängelt, scheinen für den Sozialdemokraten ein paar weniger durchaus verkraftbar. Und natürlich hat er amtlich Recht, wenn er darauf beharrt, dass „in diesem Fall Sicherheit vor Kommerz gehe“. Ob die Situation sich jedoch aufgrund der neuen Verordnung signifikant verbessert, bleibt zumindest fraglich. Und auch Semra merkt spöttisch an, dass man „sich vielleicht besser um die Dealer kümmern sollte, wenn einem die Sicherheit am Görli wirklich so am Herzen liegt”.
Kampflos jedenfalls, das scheint schnell klar, wird sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Kann sie auch nicht, wenn sie ihren Laden am Leben erhalten will. Deshalb setzt sie eine Petition auf, in der sie dafür plädiert, die Kiezkultur des Straßenabschnitts zu erhalten, und den Bezirk auffordert, eine Lösung zu finden, die für alle Parteien zufriedenstellend ist. Auch die übrigen betroffenen Läden machen mit. Sobald mehr als 500 Unterschriften in der Nachbarschaft zusammen kommen, wollen sie diese der Bezirksregierung übergeben. Es dauert nicht mal eine Woche. Die Kreuzberger scheinen anderer Meinung als ihr Stadtrat.
Man sei sich der Problematik rund um den Abschnitt Skalitzer Straße 99 bis 106 schon länger bewusst, sagt die Kreuzberger Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann von den Grünen. Einen Antrag an den Senat, den hiesigen Fahrradweg – soweit möglich – auf Parkplätze oder Fahrbahn zu verlagern und dadurch mehr Raum für Passanten, Räder und Läden zu schaffen, hat die Bezirkverordnetenversammlung (BVV), das „Kreuzberger Parlament“, deshalb bereits 2012 gestellt. Ersatzparkplätze könnten wie auch in anderen Teilen der Skalitzer Straße auf dem Brachland unter der Hochbahntrasse geschaffen werden. Eine salomonische Lösung. Ähnliches fordert auch Semras Petition zum „Erhalt der Kiezkultur auf der Skalitzer Straße”.
Sogar im Berliner Senat sorgt man sich generell um den maroden Zustand der Verkehrsführung – besonders Zweiräder betreffend. Jahr für Jahr gibt man deshalb Budgets von mehreren Millionen Euro für den Ausbau von Radwegen frei. Anlass zu überbordendem Optimismus bietet das aber nicht. Zwar wurde bereits 2013 zu einem groß angelegten Online-Dialog für Radsicherheit aufgerufen – so konnte man auf einer Website Vorschläge für Verbesserungen und Ausbau der Fahrradwege abgeben und über die Dringlichsten abstimmen –, nur ein Bruchteil davon wurde jedoch umgesetzt. Das Geld ist da, das Wissen um die Brennpunkte ebenfalls. Auch Anwohner, Bezirk und Stadt scheinen sich einig. Und dennoch passiert häufig nichts. Woran kann das liegen?
Vielleicht an der dem Senat unterstehenden Verkehrslenkung, die sich um die Straßen Berlins kümmern soll. Auch sie genießt den Ruf eines Nadelöhrs. Laut Peter Beckers bleiben viele der Anträge, die er als Verantwortlicher im Auftrag der BVV stellt, dort jahrelang unbeantwortet. So auch der, die Situation an der Skalitzer zu entschärfen. Da die Straße mit einem Durchsatz von knapp 30.000 Autos pro Tag an dieser Stelle für den städtischen Verkehr von übergeordneter Wichtigkeit sei, könne man außerdem als Bezirk nicht autonom handeln. Ohne Entscheidung des Senats gehe es nicht – auf diese wartet man seit nunmehr fast vier Jahren, 2015 wurde die Anfrage des Weiteren erneut gestellt. In der Zwischenzeit müsse man der Situation eben mit anderen Mitteln Herr werden.
„Ich fotografiere das ab jetzt alles”, sagt Semra in Manier einer rüstigen Rentnerin und zeigt auf den Wagen, der direkt vor ihrem Späti auf dem Fahrradweg parkt. Nichts würde hier besser, nur weil die Tische weg sind, diagnostiziert sie verärgert. Die Straße zu überqueren sei zuweilen abenteuerlich, Fahrradfahrer würden nach wie vor von zwischen parkenden Autos hervorspringenden Passanten überrascht und auf den Spuren selbst hätte sich noch nie jemand an das Tempolimit gehalten. Jedem, der die Ecke kennt, wird es schwer fallen, Semra zu widersprechen. Für das Gros der Verkehrsprobleme auf der Skalitzer sind die fehlenden Tische nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.
Sprachlosigkeit macht sich breit
An dieser Stelle könnte diese Geschichte enden. Resigniert müsste man konstatieren, dass gute Ideen oft in den Mühlen der Verwaltung zerbröseln, bis nichts mehr von ihnen übrig bleibt, und man sich wohl oder übel damit abfinden muss, dass Dinge auch in Berlin geregelt werden, wie sie so häufig geregelt werden, wenn sich der Amtsapparat einer Sache annimmt: mit faulen Kompromissen, die in bestenfalls suboptimalen Lösungen enden – und das nach Jahren. Oder aber man hakt nach und stellt fest, dass es in Wahrheit noch viel schlimmer ist.
Auf Anfrage bei der Verkehrslenkung Berlin, besagtem „Nadelöhr der Verwaltung”, wird den Autoren überraschend zügig ein Dokument ausgehändigt, welches belegt, dass der Antrag des Bezirksamts bereits 2014 beantwortet wurde. Der Inhalt: der Fahrradweg kann nicht auf die Fahrbahn verlegt werden, da die Skalitzer Straße als wichtige Ost-West-Achse zweispurig bleiben muss. Gegen einen Fahrradweg dort, wo sich momentan die Parkplätze befinden, sei aber prinzipiell nichts einzuwenden, sofern man eine Lösung für die dort stehenden Bäume fände. Die Entscheidung darüber allerdings liege im Kompetenzbereich des Bezirks. Des Weiteren wird angemerkt, dass man das Problem auch kostengünstiger regeln könne, wenn man die Tische der ansässigen Gastronomie entfernen würde. Letzteres ist, was augenscheinlich auch Stadtrat Beckers präferiert – und vom Ordnungsamt durchgesetzt wurde.
Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann ist sprachlos. Sie hatte sich bis dato auf Beckers’ Wort verlassen, der nicht müde wurde, zu betonen, die Anfrage wäre nach wie vor unbeantwortet, das jetzige Vorgehen alternativlos. Sogar eine rechtliche Prüfung war in Auftrag gegeben worden. Diese sollte klären, inwiefern die Annahme, man könne als Bezirk eigenständig nicht tätig werden, der Wirklichkeit entspricht. Das scheint jetzt hinfällig, Herrmann will der Sache nachgehen. Beckers selbst bittet um Verständnis dafür, dass er sich angesichts der ‚neuen‘ Sachlage zunächst nicht äußern wolle. Was bleibt, sind viele offene Fragen und ein fader Beigeschmack. Garniert mit der Erkenntnis, dass in Politik und Verwaltung die eine Hand nicht zu wissen scheint, was die andere tut. Leidtragende dieser Realsatire sind Semra und ihre Mitstreiter.
Doch auf der Skalitzer hat man sich berappelt. Selbst die Tische stehen wieder. Man gibt sich kämpferisch und hat unterdessen Rechtsbeistand. „Sollen sie doch kommen”, dann könne man immer noch weiter sehen, sagt Semra, stemmt demonstrativ die Hände in die Hüften und lacht. Den Frühling wollen sie und ihre Gäste, die – als wäre nichts gewesen – den Bürgersteig säumen, sich nicht verderben lassen. Gewählt wird in der nicht ganz stubenreinen Metropole schließlich erst im Herbst wieder.
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Text und Recherche beruhen auf der gemeinsamen Arbeit von Antonia Märzhäuser und Jan Jasper Kosok. Letzterer wohnt in der Nähe des Görlitzer Bahnhofs und hat sich aktiv für die Belange der betroffenen Läden engagiert. Illustriert wurde der Text von Susann Massute, die ebenfalls in der Nähe des Spätkaufs lebt
Dieser Artikel erschien ebenfalls beim Freitag