Von und mit Alexander Seltenreich
Vielleicht lässt sich die MP3 als Momentaufnahme beschleunigten Fortschritts bezeichnen, dessen Ursprung der Wille des Menschen ist, Dinge zu vervielfältigen und zu kopieren. Man kann aber auch sagen: ohne sie hätten Musikblogs nie den Einfluss bekommen, den sie heute haben.
Im Grunde ist die MP3 das, wovon unsere Eltern träumten, als sie umständlich versuchten, Radiosendungen mitzuschneiden oder Vinyl auf Kassetten zu bannen. Ihren Siegeszug allerdings konnte das bereits ab 1982 vom Fraunhofer-Institut entwickelte Format erst antreten, als die technischen Vorraussetzungen für deren gesellschaftliche Verbreitung in die Arbeits- und Kinderzimmer der breiten Masse Einzug hielten.
Mitte der 1990er Jahre schließlich einigte man sich, die MP3 auch als solche zu bezeichnen. Ihr wurde das Kürzel ".mp3" verliehen, das wenig später auf den Festplatten der besten Familien tausendfach zu finden sein sollte. Einhergehend mit den ersten Wiedergabegeräten und der für Kodierung und Abspielen nötigen Software auf den ersten multimedial halbwegs ernstzunehmenden Rechnern trat sie ihren bis heute anhaltenden Siegeszug an.
Schnitzeljagd in den Salon
Ihr Weg ins Internet glich derweilen einer Schnitzeljagd. Lange bevor Apple die MP3-Player mit dem I-Pod salonfähig machte, setzte der Musik-Fan auf CDs. Die Ware Musik ausschließlich als Datei zu nutzen, erschien zu Anfang noch als zu schlicht oder vielleicht einfach noch als zu abstrakt. So wurde zunächst via Brenner die eigene Sammlung aufgestockt und nicht wenige Haptiker verzweifelten daran, Cover auszudrucken und Rohlinge optisch aufzuhübschen.
Von dort allerdings war der Tauschhandel der komprimierten Musik nicht mehr weit. Er verlagerte sich vom Wohnzimmer ins IRC, ein frühes Chat-Netzwerk, in dem kurz vor Ende des Jahrtausends ein zartes Pflänzchen aufkeimte, das die Musikindustrie als „Szene“ Angst und Schrecken lehren sollte.
Dabei wollte die „Szene“ im Kern nichts anderes sein als ein digitales Wohnzimmer: ein etwas überdimensioniertes Stelldichein ihrer Mitglieder, die Zugang zu Promos und Frühveröffentlichungen hatte, bei dem Musik allerdings ausdrücklich privat und für den Eigengebrauch getauscht werden sollte.
Romantische Piraten, kalte Keller
So entstand ein globales Netzwerk, dessen Rückgrat aus den ersten, eher romantischen Internetpiraten, ein paar Servern in schwedischen Kellern oder deutschen Universitäten sowie einem strikten Regelwerk bestand. Die „Szene“ war ziviler Ungehorsam im engsten Kreis, vielleicht etwas organisierter, aber am Ende nicht mehr als der ideologische Ziehsohn des Bootleggings, das schon unsere Eltern betrieben hatten.
Spätestens mit der Tauschbörse Napster allerdings halfen auch die besten Vorsätze nichts mehr, denn was die „Szene“ intern veröffentlichte, fand seinen Weg über Umwege in ein Netzwerk, das jedem zugänglich war und so zum Massen-Multiplikator für Lieder und Alben wurde, deren Veröffentlichungsdatum noch in weiter Ferne lag.
Damit hatte das Internet de facto die Musikindustrie überholt. Wer sich hier bediente, musste zwar durch ISDN oder 56k-Modem gedrosselt knapp 2 Stunden auf den Download eines Albums verwenden, war aber seinen analogen Freunden in puncto Aktualität trotzdem um Lichtjahre voraus.
Schweigende Akzeptanz des Illegalen
Was fehlte, war die Öffentlichkeit, deren Abwesenheit vor allem darauf fußte, dass kurz nach der Jahrtausendwende gegen die Nutzer von Napster, die Betreiber von Servern und Mitglieder der „Szene“ mit aller gebotenen juristischen Gewalt vorgegangen wurde. Die Industrie zitterte und zeigte ihre hässliche Fratze, indem sie drohte, gegen jeden vorzugehen, der sich nicht auf den üblichen Vertriebswegen, sondern via Filesharing und Peer-to-Peer bediente.
Etwas später, im Jahr 2001, stellte Apple den ersten I-Pod vor, den ersten hübschen MP3-Player mit 5 Gigabyte Speicher. Dieser konnte mit knapp 2.500 Songs gespeist werden, für die man in I-Tunes umgerechnet etwa 2.500 € hätte berappen müssen – was völlig unrealistisch war. Dies bedeutete nichts anderes, als dass der Computer-Riese stillschweigend die Existenz illegaler Downloads anerkannt hatte. Spätestens mit der Implementierung des hauseigenen I-Tunes Music Store im Jahr 2003 legte die MP3 ihr verrufenes Image ab und wurde so gesellschaftsfähig, dass sie nicht nur im Verborgenen, sondern auch im öffentlichen Auditorium des Netzes ihren Platz finden konnte.
Die Revolution begann Anfang des Jahrhunderts. Damals machte sich in den Köpfen ein neues Verständnis von Musik breit. Eines, das die Schöpfungen von Musikern von der Meinungsherrschaft der Plattenverlage und den Zwängen der TV- und Radiomacher so- wie der Ladentheke befreien wollte. Geschmack sollte wieder etwas werden, was der Menge und nicht einem Diktat entsprang. Kurz: Man wollte sich die Musik zurückholen. Und das Mittel dazu sollte eine Einrichtung sein, die damals den meisten Menschen noch unbekannt war: Blogs.
Ins Rollen brachten die Sache 2002 jene Musikblogs, die heute noch im Internet unter stereogum.com und fluxblog.org zu finden sind. Sie wurden zunächst beliebte Anlaufpunkte und bald schon Pflichtprogramm für alle Musik-Liebhaber, die auf keinen Fall etwas verpassen wollten. Anfangs waren sie noch ohne online abspielbare Musik, dafür mit deutlichem Tagebuch-Charakter. Mit der Zeit wurde Fluxblog-Betreiber Matthew Perpetua mutiger und ergänzte seine Beiträge zunächst mit Links zu Musiktauschbörsen. Dann begann er zum Jahreswechsel 2004 mit etwas, was die Blaupause für die meisten Musikblogs bis heute werden sollte.
Seine Idee war, Künstler ebenso subjektiv wie knapp vorzustellen und seine Einträge mit direkt herunterladbaren Audio-Dateien zu ergänzen. Vom heutigen Standpunkt aus gesehen, scheint so etwas selbstverständlich, damals jedoch bedeutete es einen riesigen Fortschritt: War der Musikinteressierte vorher darauf angewiesen, sich auf Rezensionen in Printmedien zu verlassen oder stundenlang nachts Musikfernsehen zu verfolgen, war die Musik jetzt wortwörtlich nur noch einen Klick entfernt.
Die neue Fülle an schnell verfügbaren Songs erleichterte selbst „Normalhörern“ die Entwicklung eines individuellen, breit gefächerten Musikgeschmacks jenseits des Mainstreams. Und weil die Blogsoftware sowohl kostenlos als auch einfach zu bedienen war, dauerte es nicht lange, bis auch Nischengenres ihren Weg in die Blogosphäre fanden. Der Großteil der so entstandenen Blogs verschwand allerdings genau so schnell wieder wie er aufgetaucht war. Durchsetzen konnten sich vor allem diejenigen, die sich an eher traditionellen Werten orientierten: Aktualität, Kontinuität, Qualität, Stilsicherheit und einem Gefühl für den Zeitgeist.
Die erfolgreichsten Blogs taten jedoch mehr als das. Sie fütterten die Leser, respektive Hörer mit ihren Visionen von Musik, also jenen möglichen Trends, die zunächst nur als Idee fernab des Mainstreams existierten – und lösten dadurch Wellen aus, die von der teilweise immensen Zahl von Lesern in die Welt getragen wurden. Durch „Bloglove“, also die besonders häufige Erwähnung in Blogs, konnten Bands wie Justice, The Arctic Monkeys, La Roux oder M.I.A. auf sich aufmerksam machen, obwohl ihnen zunächst nicht viel mehr als ihre Musik und das Internet zur Verfügung stand.
Seit klar ist, dass Blogs erfolgreich Trends kreieren, bekommen Blogger täglich Dutzende von E-Mails, in denen ihnen neue Musik schmackhaft gemacht werden soll. Zu Beginn stammten diese Mails hauptsächlich von den Künstlern selbst, seit geraumer Zeit aber hat auch die Musikindustrie mitsamt ihren angeschlossenen Agenturen Blogs als Werbeplattform entdeckt.
Dennoch scheinen die großen Vertriebe den Umgang mit dem Medium immer noch nicht wirklich zu beherrschen. Das merkt der Musikblogger zum Beispiel daran, dass es nicht selten vorkommt, dass ein Label eine Musik-Datei zur Veröffentlichung freigibt und nur wenige Tage später aus dem selben Haus die resolute Aufforderung folgt, die Datei wieder von der Seite zu nehmen. Ansonsten drohten rechtliche Schritte. „Die eine Hand scheint nicht zu wissen, was die andere tut, im Zweifelsfall wird mit Kanonen auf Spatzen geschossen“, sagt etwa Jörg Finckebein, Berliner Blogger, DJ und Mitglied von Grindin, einem diskreten, aber zunehmend einflussreichen Kollektiv von Musik-Bloggern.
Rotary Club im Untergrund
„Zu Beginn war Grindin nicht mehr als ein Netzwerk, das verschiedene, hochklassige Blogs miteinander bekannt machen sollte“, sagt Niklas Mijdema vom schwedischen Blog discobelle.net, der das Projekt ins Leben gerufen hat. Mittlerweile gehören fast alle Szene-Größen zu der Gemeinschaft, die sich hauptsächlich via E-Mail-Verteiler verständigt und sich im Netz nur als Link- liste auf Discobelle zu erkennen gibt.
Viele der Grindin-Blogger besitzen inzwischen eigene Labels, arbeiten bei größeren Vertrieben, verdingen sich als DJs, Musiker und Videokünstler oder schreiben für Magazine. Einhellig schätzen die „Grinder“ dabei die Expertise ihrer Kollegen oder aber deren zuweilen nützliche Kontakte.
Sein eigenes Blog allerdings leide unter Grindin, scherzt Jason Forrest, Erfinder des Blogs birthdaypartyberlin.com sowie der gleichnamigen Partyreihe. Grund dafür ist eine Maxime, die Grindin-Mitglieder dazu verpflichtet, nur Musik zu veröffentlichen, die von Labels oder Künstlern freigegeben wurde. Es ist ein Dogma, das die Arbeit der Grinder einerseits komplizierter macht, sie andererseits aber von Bloggern abgrenzen soll, die illegal Musik verbreiten.
Mittlerweile reifen innerhalb von Grindin Pläne, die den Verteiler einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen sollen. Zu diesem Zweck wird eine eigene Webseite entstehen, welche die Beiträge der inzwischen mehr als 40 Blogger zusammenführen soll. Dieses Super-Blog wäre das Flaggschiff für ein Netzwerk, dessen Blogs insgesamt circa drei Millionen Besucher pro Monat auf sich vereinigen würden – eine Zahl, die auch für Werbekunden von Interesse sein dürfte.
Ob sich Grindin aber als Plattform für Werbung anbieten soll, ist unter den Mitgliedern strittig. Man will jedoch prüfen, welcher zusätzliche Nutzen sich einstellen könnte, wenn man als Einheit aufträte. Zur Diskussion stehen hierbei Kooperationen mit großen Labels, eine globale Partyreihe, ein eigenes Label oder eine Agentur, die sowohl Künstler fördert als auch bei deren Vermarktung hilft. Wichtig sei, das man „der musikalische Rotary Club des Untergrunds“ bleibe, sagt Jörg Finckebein.
Damit verfolgt Grindin einen Ansatz, der versucht, Musik von unten rentabel zu machen. Anstatt wie die Major-Labels von den großen Margen vergangener Tage zu schwärmen und sich dem technischem Fortschritt zu verweigern, geht es hier darum, die Dynamik eines aufbrechenden Marktes zu nutzen.
In dieser Perspektive könnten Interessengemeinschaften wie Grindin zu Sprachrohren des mündigen Musikliebhabers werden, der sich nicht länger dem Traktat aus Klingeltönen, Superstar-Casting-Shows oder ähnlich innovativen Erfindungen der Musikindustrie unterwerfen will. Auf jeden Fall werden es vor allem Blogs und Online-Portale sein, die in Zukunft die Geschmäcker der Hörer aufschnappen und prägen und so ihren Teil dazu beitragen werden, dass Musik wieder dorthin zurückkehrt, wo sie hingehört: Zu den Menschen, die sie als solche schätzen.
Und vielleicht könnte Grindin so zugleich ein erfolgreiches Rollenmodell für netzaffine Klein-Unternehmer im Bereich der Medien sein: Ein Modell, das beweist, dass sich zusammen mehr bewegen lässt als allein. Oder aber man bleibt schlicht „ein Hort der Glückseligkeit“, wie der Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit einst den Berliner Stadtteil Kreuzberg nannte. Wäre ja auch okay. Nur, dass es in Kreuzberg nach Döner statt nach Zukunft duftet.
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Der zweite Teil dieses Textes erschien am 6.8.2009 im Freitag. Der erste Teil war ursprünglich als eine Art Einführung gedacht und wurde als Online-Beistück veröffentlicht.