In der letzten Woche launchte Facebook seinen neuen Local Based Sharing Service namens Places, mit dem es möglich wird, dem sozialen Netzwerk die eigene Position mittels Check-In mitzuteilen. Gleichzeitig füllte ein weiteres Thema das Sommerloch: Street View, Googles Großprojekt in Sachen Fassadenfotografie. Beide Produkte riefen – wie nicht anders zu erwarten – hierzulande vor allem Datenschützer und Verfechter der Privatsphäre auf den Plan, die sich mit den Internetriesen die üblichen Scharmützel um Richtig oder Falsch lieferten.
Wenig verwunderlich also, dass das Netz selbst inzwischen vor Anleitungen wimmelt, in denen beschrieben wird, wie der bisherige Status Quo erhalten, ergo der Datensammelwut Einhalt geboten und Otto Normalverbraucher vor den Augen der Konzerne und seiner Mitmenschen beschützt werden kann. Es geht ans Eingemachte, und das merken sowohl Staat als auch Verbraucher.
Die Verbissenheit, mit der das Thema Datenschutz momentan umkämpft wird, erinnert deshalb mitunter nicht ganz zufällig an Geburtswehen, die Mutter Internet bereits hinter sich hat oder in denen sie immer noch steckt. So schwelt der Streit um das Urheberrecht in Musik- und Filmindustrie schon seit langem. Auf der einen Seite die Konzerne, die ihren Tantiemen sichern, und auf der anderen Seite die Endverbraucher, die nicht länger auf das öffentlich gewordene Gut Film bzw. Musik verzichten wollen. Ähnliches gilt für das Verlagswesen, das genau wie seine zwei Mitstreiter händeringend nach Möglichkeiten fahndet, die Zeit zurückzudrehen oder mit den neuen Errungenschaften Frieden zu schließen und neue Erlösquellen zu finden – mäßig erfolgreich. Es ist – wenn auch mit wechselnden Perspektiven und Hauptdarstellern – der ewig währende Streit zwischen Alt und Neu.
Was momentan in den Schwaden der Gefechte unterzugehen droht, ist, dass Google und Facebook mit ihren Services die Infrastruktur und Basis für einen weiteren großen Schritt in der Entwicklung des Netzes liefern werden. Dabei geht es um nichts geringeres, als die Verwirklichung einer flächendeckenden Augmented Reality, einem lang erwarteten Phänomen, dessen Durchbruch bis dato vor allem wegen mangelnder Daten als auch fehlender Performance der mobilen Endgeräte auf sich warten lässt.
Ob Facebook und Google selbst die Applikationen veröffentlichen werden, die die Datenbanken der beiden Großunternehmen realitätserweiternd nutzbar machen, ist dabei nebensächlich. Entscheidend ist, dass 100.000.000 mobile Facebook- und damit potenzielle Places-Nutzer in Kombination mit Googles Street View Projekt und die daran geknüpfte Bilddatenbank mit den möglichen Ausmaßen eines modernen Weltwunders Überlegungen in Richtung einer echtzeit- und örtlichen Augmented Reality Anwendung überhaupt erst sinnvoll und möglich machen. Um die nötige Hardware werden sich Firmen wie Apple nur zu gern kümmern.
Hinter dem Begriff Augmented Reality selbst, der erweiterten Realität, verbirgt sich eben mehr, als die ersten Gehversuche des SZ Magazins vermuten lassen. Tatsächlich ist es neben einer praktischen Mehrinformation, die an einen Gegenstand, einen Ort oder einen Gesicht geknüpft ist und dem Betrachter via mobilem Endgerät dargeboten wird, auch Teil der sukzessiv voranschreitenden Transformation unserer Privatsphäre weg von einem privaten hin zum öffentlichen Gut.
In nicht allzu ferner Zukunft werden wir mit einem Blick durch unser mobiles Telefon wissen können, was und wer sich hinter dem verbirgt, was wir sehen – soweit wir es zulassen. Die Transparenz und virtuelle Verfügbarkeit der Dinge jedenfalls wird genau so zunehmen wie die ihrer Besitzer, angetrieben durch einen immer neue Blüten schlagenden Exhibitionismus, der nur darauf gewartet zu haben scheint, ausgelebt zu werden.
Die Aufweichung der Grenzen, die wir um uns und unser geistiges Eigentum ziehen, ist Teil eines Wertewandels, dem sich die Gesellschaft unweigerlich stellen muss. Wie qualvoll dieser Prozess ist, wird schon heute sichtbar, wenn beispielsweise über Urheber-, Leistungsschutzrecht oder Datenschutz diskutiert wird, als würde es um einen virtuellen Kohlepfennig gehen. Verständlicherweise fällt das erforderliche Umdenken vor allem denjenigen schwer, deren Existenz auf dem alten System fußt oder mangels Anpassungsfähigkeit nur dort funktionieren kann. Davor allerdings dürfte die Wissensgesellschaft keinen Halt machen, will sie doch bis in den letzten Winkel dieser Welt unaufhaltsam ihrer Maxime folgen: dem Wissen. Letzteres gibt es bald mobil und überall, gratis und mit 20 Prozent mehr.